Codename Nikolaus

Der Sieg wird vor allem darin bestehen, dass man eine gute Fernsicht hat,
alles aus der Nähe sieht und alles einen neuen Namen trägt.“

                                                                                                                          Apollinaire

Wer Namen gibt, legt Spuren. Dabei bemisst sich der Informationswert eines Namens nicht zwangsläufig nach dem Grad seiner Verständlichkeit. Als am 6. Dezember 1947 mehrere Mitglieder der „Geheimorganisation Gehlen“ eine Liegenschaft zwischen Großhesselohe und Pullach bei München in Besitz nahmen, die zum Ausgangspunkt ihrer zukünftigen nachrichtendienstlichen Aufklärungsarbeit werden sollte, verspürten sie ein akutes Bedürfnis, für das Territorium einen geeigneten Namen zu finden. Mit ironischer Delikatesse benannten sie das Siedlungsareal ausgerechnet nach jenem berühmten Metropoliten von Myra, dessen Jahrestag gerade gefeiert wurde: Camp Nikolaus. Im Rückblick mutet der Titel tatsächlich wie ein vorweihnachtliches Geschenk an, das mehr von einem kindlich verspielten Aneignungsreflex der Namensgeber zeugt als von ausgefeilten Codierungsstrategien. Wenn man das über Jahrzehnte gepflegte Image des Bundesnachrichtendienstes ins Visier nimmt, mag man dennoch spekulieren, ob es sich bei der Einschätzung nicht um einen Trugschluss handeln könnte. Denn die etymologische Rückführung des Namens Nikolaus verweist auf eine zweifache Bedeutung, die in ihrer Doppelbödigkeit eine dezidiert andere Fährte legt: »Sieger aus dem Volk, Sieger über das Volk.«

Wer Namen gibt, verdeckt Spuren. Mit der Reaktivierung des weitläufigen Geländes in Pullach sollte für die Geheimorganisation Gehlen unter dem Protektorat der CIA ein möglichst autarker Handlungsraum entstehen, in dem zunächst unabhängig von den anderen Alliierten und den deutschen Behörden die nachrichtendienstlichen Aufgaben wahrgenommen werden konnten. Dem Vorhaben folgte von Beginn an ein radikales Prinzip der Abschottung, das zwangläufig das zwiespältige Signum jeder Geheimdiensttätigkeit bildet. Es manifestiert sich bis heute in einem vier Kilometer langen Ring von Mauerwerk und Stahlzäunen, die das Geheimdienstareal in Pullach von der Außenwelt streng abschirmen. Was sich unter der Adresse „Heilmannstraße 30“ verbarg, blieb für die bundesrepublikanische Öffentlichkeit weitgehend ungewiss. Auch nach Überführung der Geheimorganisation Gehlen in den Bundesnachrichtendienst im Jahr 1956 bewahrte das Gelände eine Aura des Unfassbaren, die sich in einer offiziellen Amtsbezeichnung widerspiegelte. Jahrzehntelang wurde das hermetisch abgeschottete Gelände als Teil der „Bundesvermögensverwaltung, Abteilung Sondervermögen, Außenstelle Pullach“ ausgewiesen, auf dem Gerüchten zufolge Hunderte von Gärtnern, Bienenzüchtern und Finanzbeamten tätig waren. Es war eine begriffliche Tarnung, nur ungenügend verschleiert, die in ihrer nichts sagenden Noblesse bis heute absurd anmutet. Was blieb, war ein zwiespältiger Mythos, dessen Image sorgsam und mit viel Ironie gepflegt wurde. An dem vier Meter hohen Mauerwerk der Heilmannstraße wurden etwa Schilder angebracht, die davor warnten, die Sichtbarrikaden zu fotografieren. Bei Zuwiderhandlungen wurde ein Bußgeld in Höhe von 10.000 DM auferlegt, ein Preis, der nach der Euroumstellung stabil geblieben ist.

Auch wenn die geheimnisumwitterte Liegenschaft lediglich zehn Prozent ihrer Gesamtfläche umfasst, avancierte im Laufe der Jahrzehnte die bayerische Gemeinde Pullach zum Synonym für die verdeckten Aufklärungstätigkeiten des Bundesnachrichtendienstes. In seinen mitschwingenden Bedeutungsbezügen steht »Pullach« immer noch stellvertretend für eine spezifische Grauzone des Erkennens, die eine demokratische Gesellschaft zu tolerieren vermochte. Erst seit Ende der 90er Jahre wurde unter der Präsidentschaft von Hansjörg Geiger das hochgradig aufgeladene Label BND den Erfordernissen einer modernen Informationsgesellschaft angepasst. Mit dem geplanten Umzug des Bundesnachrichtendienstes nach Berlin und der geplanten Preisgabe des Geländes ist das funktionale Profil des hermetisch abgeschirmten Areals jetzt vermutlich ein letztes Mal ins Visier geraten. Die Frage gilt weiterhin: Was verbirgt sich hinter den Mauern von Pullach, was verbirgt sich hinter dem Codenamen Nikolaus?

 

Objekt Nikolaus

Wer Bilder macht, kann auf Namen verzichten. Im Dezember 2003 wandte sich Andreas Magdanz an die Verantwortlichen des Bundesnachrichtendienstes mit der Anfrage, das Areal für ein fotografisches Projekt zu dokumentieren. Die Bedingungen für eine Realisation schienen günstig. Im Zuge der Anschläge vom 11. September 2001 hatte die auslandsnachrichtendienstliche Aufklärungstätigkeit an zentraler Bedeutung gewonnen, die gesellschaftliche Verankerung des Bundesnachrichtendienstes schien gefestigt. Zugleich war mit dem Kabinettsbeschluss vom 10. April 2003 absehbar, dass das Geheimdienstgelände in Pullach zukünftig einer anderen Bestimmung zugeführt werden würde. Nicht zuletzt hatte Andreas Magdanz mit seinem im Jahr 2000 erschienenen Buchprojekt »Dienststelle Marienthal« ein solitäres Buchwerk vorzuweisen, das mit dem ehemaligen Regierungsbunker der Bundesrepublik Deutschland eine vergleichbar sensible und belastete Örtlichkeit der deutschen Nachkriegsgeschichte behandelte. Referenz und Konzept überzeugten die Stabsspitze des Bundesnachrichtendienstes, in Folge der historischen Zäsuren kam es zur Kooperation. Dem Künstlerfotografen wurde nach einer ausführlichen Sicherheitsüberprüfung, die ein halbes Jahr beanspruchte, freie Hand bei der inhaltlichen und formalen Projektierung zugesichert.

Im August 2005 erhielt Andreas Magdanz erstmals Zutritt zur Liegenschaft des Bundesnachrichtendienstes. In ständiger Begleitung eines Sicherheitsbeamten wurde ihm die Sichtung des gesamten Außenareals gewährt. Als Auflage galt ein umfassendes Fotografieverbot der Bediensteten. Jeden Tag musste der Fotograf an der Eingangspforte seinen Personalausweis gegen einen anderen Ausweis einlösen. Für Außenaufnahmen wurde ihm eine Selbstfahrlafette (Haulotte) zur Verfügung gestellt, die bis auf eine Höhe von 16 Metern ausfahrbar war. Nach vorheriger Absprache erhielt Magdanz auch Zugang zu allen Gebäudeeinheiten. Bei der Bilddokumentation, die im Januar 2006 abgeschlossen werden konnte, bot ihm eine Karte im Maßstab 1:2500 aus dem Jahr 1998 eine wertvolle Orientierung. Sie verzeichnet namenlos die zahlreichen Gebäudekomplexe, Straßenzüge und Gehwege. Lediglich auf der Legende steht „Objekt Nikolaus“ vermerkt.

Ein kartografisches Raster auf der genordeten Karte, die diesem Bildband beiliegt, untergliedert das westlich der Isar gelegene Areal gleichförmig in 88 Planeinheiten, die die komplexe bauliche Grundstruktur des BND-Areals offen legt. Geschlossenen Herzkammern vergleichbar, die von einer einzigen Arterie versorgt werden, legen die beiden Kompartimente dies- und jenseits der Heilmannstraße in ihrer unterschiedlichen Bebauungsstruktur die tiefe historische Verwachsenheit des Terrains frei, die in die NS-Zeit zurückreicht. Es galt daher für Andreas Magdanz, bei der Begehung des 68.000 qm umfassenden Binnengeländes zunächst die verschiedenen Gebäude- und Funktionseinheiten in ihren zeitlichen Schichtungen zu sondieren. Wer die Bilderfolge in diesem Band sorgsam studiert, wird denn auch eine Vielzahl visueller Spuren entdecken, die von der nationalsozialistischen Erblast der ehemaligen Reichssiedlung Rudolf Heß und des Führerhauptquartiers Siegfried zeugen. Es sind Relikte und Räume, die durch ihre funktionale Neubestimmung seit 1947 vielschichtige Metamorphosen erfahren haben. Ein Ölbild des legendären Preußenkönigs aus der ehemaligen Bormannvilla dient etwa als repräsentative Hintergrundfolie eines Vortragssaals, eine unterirdische Zelle der NS-Bunkeranlage Hagen als holzvertäfelte Raumschießanlage, ein Waldhaus als Hörsaal der zentralen Ausbildungsstätte. Frappant genug, bewahrt die zwiespältige Historizität einzelner Gegenstände, Innenräume und Siedlungsarchitekturen das real Vorgefundene vor der völligen Gesichtslosigkeit. Denn den Erfordernissen eines modernen Dienstleistungsapparats entsprechend, offenbaren die Schauplätze des Bundesnachrichtendienstes allein eine strenge Funktionalität, die in der Summe der Bilder zutiefst ernüchternd wirkt. Das Auge trifft in Gebäudekomplex 110 etwa auf geweißte Flurengänge, deren dekorative Elemente sich auf das Rot der Feuerlöscher beschränken. Im Lage- und Informationszentrum (LIZ), das als eigentliches Herzstück der Aufklärungsbehörde gilt, folgt die technische Ausstattung streng den kommunikativen Bedingungen des so genannten Informationszeitalters. Lediglich ein gerahmtes Portrait des Bundespräsidenten ─ unmittelbar neben dem Entree aufgehängt ─ mahnt an den staatsverpflichteten Auftrag. Nicht zuletzt prallt der fotografische Blick auch auf der samtig schwarzen Plastikoberfläche gereihter IBM Roboter ab, die als digitaler Speicher das zeitgemäße Gedächtnis der Aufklärungsbehörde bilden. Auch ihr sichtbarer Aussagewert tendiert gegen Null.

 

Der Code des Erkennens

Wer Bildern misstraut, sollte auch Namen misstrauen. In der Anschauung kommt die visuelle Freilegung des BND-Binnengeländes in Pullach wohl einer Entmythologisierung gleich. Sein bislang verborgenes Wesen, das kindgleich den Mythos bewahrt hat, entlarvt sich in seinen ablesbaren funktionalen Determinanten als bloßes Dienstleistungselement einer »Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des Chefs des Bundeskanzleramtes«. Doch auch dieser offiziellen juristischen Bezeichnung gilt es zu misstrauen, wenn man im Schnittpunkt von Information, Desinformation und Informationsverweigerung agieren will. Es zählt zu den Charakteristika dieses Buchprojekts, dass Andreas Magdanz mit der ihm eigenen Skepsis das Vorgefundene in ein vielschichtiges Bildkonzept überführt hat, das die Bildlichkeit selbst in ihren diskursiven Grenzen aufgreift. Denn das Bild nährt - selbst in Form der Negation - bekanntlich jene Mythisierungsmuster, die den Bundesnachrichtendienst bis heute profilieren.

Ein Mythos werde nicht durch das Objekt seiner Botschaft definiert, sondern wie er diese auszusprechen wage, sagte einmal Roland Barthes. Für den dokumentierenden Künstler bedeutet die Erkenntnis gemeinhin ein Dilemma, wenn er dem Mythos nicht zudienen, sondern eine eigene distanzierte Position entgegensetzen will. Für Andreas Magdanz bedeutete die Auseinandersetzung mit der mythischen Grundstruktur des BND jedoch ein allzu vertrautes Aufgabenfeld. Denn abseits der verschiedenen Schulen und Strömungen in der zeitgenössischen deutschen Fotografie hat er mit beeindruckender Beharrlichkeit einen Sonderweg eingeschlagen, dessen Wegemarken wie bei Michael Schmidt im Nationalen verortet sind. Seine aufwendigen Buchprojekte über den Tagebau Garzweiler (1997), den ehemaligen Regierungsbunker der Bundesrepublik Deutschland (2000) und das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau (2003) legten denn auch gezielt blinde Flecken der jüngeren deutsche Geschichte frei. Immer folgt die Grundstrategie hierbei einer konsequenten Zurückhaltung gegenüber dem Sujet, immer leitet sich der zu bewältigende Bildtransfer aus dem Wesen der geschichtsbelasteten Stätte ab. Magdanz Bücher sind wie Filme, die den Schnitt einsetzen, um das Thema zu sezieren. Erst in der Gesamtsichtung evozieren die Bilder einen gedanklichen Freiraum, der nicht zuletzt vom Scheitern des Visuellen erzählt.

Dieses Prinzip hat Andreas Magdanz stringent auch in »BND – Standort Pullach« angewendet. Offenkundig nutzt er hierzu die einschränkenden Rahmenbedingungen der Sicherheitsauflagen, die ihm der Bundesnachrichtendienst auferlegt hat. Als gedankliches Entree dient ihm konkret das rigorose Aufnahmeverbot der Bediensteten, die sich ihm gegenüber stets freundlich, jedoch ausnahmslos unter falschem Namen vorgestellt haben. Atmosphärisch verdichtet sich jene Menschleere zu einem alles durchdringenden Moment der Abwesenheit, die sich bleiern und allgegenwärtig über die Bilderfolge legt. Ihr sprachloser Appell ist eindeutig und suggeriert im Wechsel von Farbe von Schwarzweiß eine latente Bedrohung, die sich kontrapunktisch in den freigestellten Observationsgeräten und Schusswaffen widerspiegelt. Ein Unbehagen, das jenseits von Transparenz und Geheimhaltung einen weiten Schatten über das Areal des Bundesnachrichtendienstes wirft. Jede Detailinformation ist hier sinnlos, scheint es, Namen nützen nicht mehr, auch keine Bilder. Die Grauzone des Erkennens manifestiert sich denn auch in einem bedeckten Himmel. Nur der Schnee erinnert noch an den 6. Dezember 1947. Nikolaustag.

Christoph Schaden

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